Das Glück, es war in Wirklichkeit ein unwirtlicher Ort, ganz nahe am Abgrund gebaut, dachte Olga, als er abgereist war. Dem schönsten Augenblick wohnte immer auch der schrecklichste inne. Nur mutige Menschen konnten ihn finden.
Leta Semadeni, Amur, grosser Fluss, 2022, S. 70.
Wenn dem Glück Unwirtlichkeit innewohnt, wohnt nicht dann auch dem Unglück Wirtlichkeit inne? Wenn dem schönsten Augenblick der schrecklichste innewohnt, findet sich dann im schrecklichsten Augenblick nicht auch der schönste? Ist es deswegen so wichtig, mutig zu sein, gerade im Angesicht von Unwirtlichkeit? Weil wir nur so das Glück finden können?
Wenn dem so ist: Was heißt das für mich – und für diejenigen, die zurückschrecken vor meinem Mut? Ich habe den Mut zu fragen und in Frage zu stellen. Sind solche Fragen, die manche als „zum Kotzen“ empfinden vielleicht gerade deswegen der Keim eines Weges in Richtung Glück, weil sie so viel Unwohlsein auslösen?
Alles hat seine Zeit, auch Worte, sagte Radu. Es ist mit ihnen wie mit den nicht begangenen Wegen, auch sie fehlen ein Leben lang.
Leta Semadeni, Amur, grosser Fluss, 2022, S. 90.
Wollen wir in unserem Leben dem Glück einen Platz einräumen – oder haben wir Angst vor dem, was es mit sich bringt? Sind wir mutig genug, das auszusprechen, was es für das Glück braucht – die Wege zu gehen, die dorthin führen?
In diesem Zusammenhang hatte die Grossmutter auch von einem griechischen Philosophen erzählt, der die Menschen in zwei Gruppen einteile: in die „Ausrufezeichen“ und die „Fragezeichen“.
Leta Semadeni, Amur, grosser Fluss, 2022, S. 59-60..
Ein „Ausrufezeichen“ ist ein Mensch, der nur deswegen keine Fehler macht, weil er sich selber für unfehlbar hält, hatte sie gesagt.
Hüte dich vor solchen Menschen, halte dich immer an Fragezeichen!
„Die Fragen sind so was von beschissen„, erboste sich das Ausrufezeichen an der Sitzung des Haager Gemeinderats vom 20.04.2023. „Die einzige dumme Frage ist die Frage, die nicht gestellt wurde“, erwiderte das Fragezeichen. Bei der darauffolgenden Abstimmung im Haager Gemeinderat blieb das Fragezeichen in der Minderheit. Auch der Bürgermeister gesellte sich zu den Ausrufezeichen. Vielleicht deswegen, weil die folgenden Worte fehlten: „Was sagt es über die vom Haager Gemeinderat gelebte Demokratie aus, wenn wir deswegen Probleme mit einer Fragestunde haben, weil uns die Fragen nicht genehm sind? Will der Haager Gemeinderat jetzt wirklich diese Fragestunde einstellen und im stillen Kämmerchen – ohne Einbezug der Bevölkerung – diskutieren, welche Art von Fragen ihm die Bevölkerung stellen darf – und wie? Will der Haager Gemeinderat so Haag am Hausruck führen? Wenn wir alle „das Beste“ für Haag wollen: Hat Haag dann nicht auch eine offenere, wertschätzendere Führung verdient als das was wir hier gerade leben? Ist es nicht an der Zeit, uns diesbezüglich in Frage zu stellen?“ Vielleicht ist es so, dass diese Worte ihre Zeit an dieser Diskussion hatten und jetzt fehlen. Vielleicht ist es so, dass es an mir gewesen wäre, dem Bürgermeister zu helfen, diese Worte zu finden – für das Gremium, das er führt, für die Sitzung, die er leitete. Vielleicht ist es so, dass er nicht auf mich gehört hätte. Vielleicht ist es so, dass sein Herz gefroren ist. Vielleicht ist es so, dass mein Herz in dem Moment gefror.
Es gibt Zeiten, da ist es ratsam, das Herz für eine Weile einzufrieren, damit es keinen Schaden nimmt.
Leta Semadeni, Amur, grosser Fluss, 2022, S. 52.
Sicher ist es so, dass es nicht ratsam ist, ein Herz langfristig einzufrieren. Weil es sonst langfristig Schaden nimmt – und mensch dann rundum Schaden anrichtet. Vielleicht ist des darum doch nicht zu spät für diese Worte. Vielleicht können sie helfen, eingefrorene Herzen aufzutauen – oder zumindest das eine oder andere etwas antauen.