Die Herausforderungen des Umgangs mit (schwerwiegenden) psychischen Krankheiten liegen ausserhalb des durchschnittlichen Musters, dem wir im Leben begegnen bzw. das wir im Laufe unseres Lebens erlernen. Ich bin mit Ken Alexander – dessen Unterlagen ich während meiner Ausbildung bekommen und grad neu gelesen habe – einer Meinung: Wir werden durch das Leben und die dabei gewonnene Lebenserfahrung nicht dafür ausgestattet, die Herausforderungen im Umgang mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen (in unserem Umfeld) zu bewältigen. Unser Leben und die darin gewonnenen Lebenserfahrungen sind an alltägliche Herausforderungen angepasst.
Ken Alexander erklärt die Situation von Familienmitgliedern von Schizophreniekranken wie folgt (das was er sagt gilt meiner Meinung nach auch für andere, schwerwiegende psychische Krankheiten):
Die normale Lebenserfahrung und die für alle verfügbaren Lernangebote sind gemäss Ken Alexander so gestaltet, dass durchschnittliche Menschen das Autofahren erlernen – also ein Auto lenken können. Wenn nun aber die durchschnittliche Fahrerin plötzlich bei schlechtesten Sichtverhältnissen die Landung eines Jumbojets mit brennendem Motor durchführen müsste, so schreibt er, würden die wenigsten erwarten, dass ihr das gelingt. Hingegen werde von durchschnittlichen Familienmitgliedern erwartet, dass sie – allein mit denjenigen Bewältigungs- und Beziehungsfertigkeiten welche sie im durchschnittlichen Leben erlernt haben – mit Schizophrenie in der Familie umgehen können. Das sei ungefähr so, wie wenn man von unserer Fahrerin erwartet, dass sie mit dem dem Jumbojet eine erfolgreiche Landung hinkriegt. So weit Ken Alexander.
Ich seh es so: Es ist nicht besonders hilfreich, wenn ich mich ins Cockpit eines Jumbojets setze, obwohl ich nicht fliegen kann. Es ist auch wenig hilfreich, sondern kann vielmehr sehr kontraproduktiv sein, wenn Menschen, die selber nur Autofahren können (und drum auch weder ein Flugzeug fliegen noch das unterschiedliche Flugverhalten einzelner Flugzeugtypen beurteilen können), einem Tipps geben, wie man die Landung eines brennenden Jumbojets hinkriegt. Sinnvoll ist es vielmehr, dass diese Aufgaben von erfahrenen Pilot*innen übernommen wird oder anders gesagt: ausgebildeten, hochkompetenten Fachpersonen.
Das heisst jetzt nicht, dass das Umfeld keine wichtige Funktion hat und dass man Menschen, die (in welcher Form auch immer) mit den Herausforderungen psychischer Erkrankungen konfrontiert sind, nicht helfen kann. Im Gegenteil: Menschen, die zuhören und versuchen die Situation zu verstehen (sich einfühlen) sind Goldes wert. Und wenn ich – in welcher Form auch immer – von einer psychischen Krankheit in meinem Umfeld betroffen bin, kann ich für mich klären, dass ich nichts dafür kann, dass ein Jumbojet notlanden muss (mich von Schuldgefühlen befreien) und darum keinerlei Verpflichtung habe ihn notzulanden (mich abgrenzen). Ich kann die verfügbaren Fakten über Jumbojetprobleme ausfindig machen und sie studieren (mich informieren). Und auf dieser Grundlage feststellen, dass ein Jumbojet kein Auto ist und dass ich schlicht und einfach nur Autofahren gelernt habe und dass ich darum auch keine Jumbojet-Landung übernehme, sondern dies an Fachleute delegiere (feststellen, dass ich Hilfe brauche und mir diese holen). Und wenn ich all diese Dinge gemacht hab, dann kann ich in mich reinhören, ob und wie ich mich selber und meine Fähigkeiten in die Situation einbringen kann und will. Und dann das für mich ganz persönlich Richtige entscheiden.
Schreibt sie und kann nicht mal vernünftig Auto fahren ;)
Link für Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen (inkl. Online-Beratung und Forum für Angehörige):
HPE – Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (Österreich)
Lesenswertes Buch für Menschen die mit Kindern zu tun haben, deren Eltern an psychischen Erkrankungen leiden:
„Sonnige Traurigtage. Illustriertes Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern“, Schirin Homeier, 2014
Verschiedene wichtige Themen abdeckender Ratgeber für Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen:
„Mit psychischer Krankheit in der Familie leben. Rat und Hilfe für Angehörige, Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (Hg.), 2014, Köln, Balance buch + medien verlag
Beitrag verfasst am 7.10.2017