Die Wahrheit sich und den anderen zumuten

Was ich in meinem Leben ganz spannend find, ist, dass mich die Menschen mit denen ich tief verbunden bin für etwas schätzen, was paradox erscheint: Dass ich ihnen Dinge sag, von denen man meinen würde, dass ich mich dadurch bei ihnen unbeliebt mach.

Nun bin ich auf einen Text von Erich Fromm gestossen, der das erklärt – und der auch erklärt, warum ich bei andren Menschen oft auf eine ganz andre Reaktion stoss:

“Die Wahrheit hat eine besondere Eigenschaft. Da sie die Wirklichkeit ausdrückt, erreicht sie den Menschen, was die Halbwahrheiten nicht tun. Bin ich auf einen anderen Menschen in echter Weise bezogen, also wirklich bei ihm und in ihm, und sage ich ihm was in diesem anderen eine Wirklichkeit ist, dann ist es für den anderen sehr schwer, weiterhin an seinem Widerstand festzuhalten, es sei denn, er ist schwer krank. Ansonsten aber gilt: Wenn ich auf der Basis dieses ganzheitlichen Kontakts ihm sage, was ich sehe, dann wird er sich nicht mehr mit einer Fülle von Rationalisierungen davonstehlen. Sage ich ihm aber nur die halbe Wahrheit, weil ich davon überzeugt bin, dass er die ganze Wahrheit noch nicht ertragen kann, dann erreiche ich ihn nicht.

Wenn man einem Menschen die Wahrheit auf den Kopf zusagt, dann fällt es ihm sehr schwer, sie zu verleugnen. Gewöhnlich ist die Wahrheit mit viel Bitterkeit, Hass und Entstellungen verknüpft. Teil man aber einem Menschen in freundlicher Weise die Wahrheit über ihn mit, dann wird der andere gewöhnlich gar nicht ärgerlich, sondern erlebt einen Schock, einen heilsamen und positiven Schock. Leider ist das nur in Ausnahmefällen möglich. Würden die menschen die Wahrheit sehen, müssten sie anders handeln; und würden sie anders handeln, dann könnten sie nicht so bleiben, wie sie sind, und gerieten in einen Konflikt mit der Gesellschaft, mit ihrem Erfolgsstreben, mit vielen, vielen Dingen, die ihnen heilig sind. Deshalb ist es zwangsläufig, dass man zwar die Wahrheit weiss, aber gleichzeitig dieses Wissen von der Wahrheit verdrängt. Ich bin im Laufe der Jahre zu der festen Überzeugung gekommen, dass wir zwar viel Schlimmes in uns verdrängen – aber wer will entscheiden, was wirklich schlimm ist. Was wir jedoch am meisten verdrängen, das ist die Wahrheit, weil die für unsere ganze Lebensweise das Gefährlichste ist.”

Quelle:

Brennstoff N° 46, GEA Verlag, Seite 17